Herbst
Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten; sie fallen mit verneinender Gebärde. Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit. Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: es ist in allen. Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.
Rainer Maria Rilke
Die christlichen Kirchen feiern im Monat Oktober das Erntedankfest. Und ich bin dankbar für dieses Fest, dass mich daran erinnert das NICHTS selbstverständlich ist. Dass das Leben, das Wachsen und Werden, aber auch die Vergänglichkeit, ein Geschenk ist.
Durch die vier Jahreszeiten erkenne ich mit jedem weiteren Lebensjahr, dass auch ich ein Teil der Natur bin und wir alle einmal im Herbst des Lebens ankommen werden.
"Alles hat seine Zeit"- so steht es im Buch Kohelet Kap.3 geschrieben. Eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben
Und: Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen
Ja, es ist in allen - dieses Fallen. Wir kommen um den Herbst unserer Endlichkeit nicht herum! Auch wir werden vergehen, wie das Blatt das vom Baum fällt und sich in den Kreislauf der Natur wieder einfügt.
Wenn ich mich manchmal dabei ertappe, wie mich Traurigkeit befällt, wenn ich meine eigenen, zunehmenden körperlichen Einschränkungen wahrnehmen muss und sie mich daran erinnern, dass ich nicht mehr 20 und vergänglich bin, dann stimmt es mich tröstlich zu sehen, dass nach jedem Herbst, nach jedem Winter, der Frühling und das neue Leben zurückkehrt. Auch wenn ich mein Leben hier auf der Erde loslassen muß, geht das Leben im Kreislauf des Lebens doch weiter. Auch ohne mich, vielleicht aber ein Stück durch mich...
Neues Leben erwacht, weil die Natur bereit ist immer wieder loszulassen und das was losgelassen wird, darf sich in den Kreislauf der Natur wieder einfügen. Etwas in mir gibt mir die Gewissheit, dass ich sanft aufgefangen werde!
Vieles mußte ich in meinem Leben schon schmerzhaft loslassen, auch wenn es mir in diesen Momenten nicht immer leicht fiel und ich den Sinn nicht verstehen konnte. Aber im Rückblick habe ich oft erfahren, dass es gut war und das es gut ist - so wie es ist, auch bei allem Schmerz! Ein Stück Gelassenheit darf sich einstellen.
Es gibt Dinge die kann ich jetzt lassen, dankbar loslassen. Und ich darf immer mehr die Erfahrung machen, dass es in mir eine Gewissheit gibt, dass nichts verloren geht. Alles wird aufgefangen! Ich weiß nicht wohin wir gelangen wenn wir sterben und wie es da sein wird, aber ich spüre ein tiefes Vertrauen, dass es gut sein wird - so wie es ist.
Und das ist das, was ich in der Sterbebegleitung, für mich, immer wieder erfahre.
Dazu möchte ich eine persönliche Geschichte zur Sterbebegleitung meines Vaters erzählen.
Das war damals meine erste Sterbebegleitung und liegt schon 17 Jahre zurück. Diese tiefgreifende Erfahrung war für mich der Grund mich zur Hospizbegleiterin ausbilden zu lassen und in der Sterbe- und Trauerbegleitung meinen Weg weiter zu gehen.
Mein Vater war an Krebs erkrankt und wusste, dass er sterben wird. Kurz vor Weihnachten, ich wusste, dass es sein letztes Weihnachten sein wird, wollte ich ihm noch irgendetwas Gutes tun, meine Zuneigung zeigen, Trost spenden, Halt geben...
Ich überlegte nicht lange und kam auf den Gedanken ihm eine Kerze zu gestalten. Auf diese Kerze schrieb ich den Bibelvers aus Jesaja "Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir du bist mein, ich bin dein Gott"
Als ich dann ein paar Tage vor Weihnachten zu ihm kam, war ich plötzlich etwas verunsichert, weil ich nicht wusste wie und mit welchen Worten ich meinem Vater jetzt diese Kerze übergeben sollte. Mir wurde in diesem Augenblick bewusst, dass ich ihn nun das erste mal mit dem Unausweichlichen konfrontieren musste, aussprechen musste, was eigentlich jede*r in unserer Familie schon wusste, aber nicht aussprach.
Mit dieser Verunsicherung trat ich an sein Bett, zeigte ihm die Kerze, las ihm den Bibelvers vor und erzählte ihm aus dem Bauch heraus von meinem Glauben, meiner festen Überzeugung, dass sein Leben das hier nun zu Ende geht, an einem anderen Ort, wo und wie auch immer seine Vollendung finden wird. Wir wechselten nur fünf, sechs Sätze und es war genug für uns Beide zu verstehen, dass das Leben und das Sterben ein Geheimnis ist und bleibt und wir uns diesem Geheimnis vertrauensvoll anheim geben dürfen.
Ich weiß noch, dass ich einen schmerzhaften Klos in meinem Hals hatte und ich glaube mein Vater auch. Aber es war ausgesprochen von uns Beiden, was all die Jahre und Monate niemand aus der Familie auszusprechen wagte.
Dies war das erste und letzte Glaubensgespräch, das ich mit meinem Vater führte. Wir hatten nie über Glauben gesprochen, schon gar nicht über unseren persönlichen Glauben.
Fast etwas erschrocken, vielleicht auch eher überrascht über meine Worte die da aus mir herauskamen, und überrascht, woher ich diese Gewissheit nahm - wünschte ich ihm frohe Weihnachten und verabschiedete mich von ihm.
Ein paar Tage später durfte ich dabei sein als er starb, ihm die Hand halten und warten, bis er seinen letzten Atemzug aushauchte. Es war für mich ein unbeschreiblicher Moment, dieser Übergang vom Leben zum Tod und das plötzliche Bewusst werden - nun ist es vorbei, das Leben meines Vaters hier bei uns...
Die Kerze die ich für ihn verziert hatte, begleitete uns dabei mit ihrem Licht und sie brannte die ganze Nacht, einen ganzen Tag und erlosch erst, als mein Vater vom Bestatter aus dem Haus getragen wurde. Das war für mich und meinen Trauerprozess sehr, sehr tröstlich.
Ich war traurig, aber so sehr dankbar über diese letzten offenen und ehrlichen Worte, die wir sprachen, auch wie sich alles gefügt hatte, das Gespräch und dass die Kerze noch so segensreich zum Einsatz kam. Das hatte ich, als ich die Kerze verzierte und meinem Vater überreichte alles nicht bedacht oder gar geplant. Ich hörte auf meine Intuition!
Ich kann mich noch gut erinnern, dass sich bei mir ein tiefer innerer Friede einstellte, der mich noch viele Monate begleitete.
Heute weiß ich, hier wurde ich des Weges geführt, den ich gewählt hatte. Und ich bin mir sicher, dass das Fallen, von dem Rainer Maria Rilke in seinem Gedicht spricht, uns alle mit hineinnimmt. Ich weiß nicht wie das Fallen aussehen wird. Dennoch spüre ich ein tiefes Vertrauen dass es gut werden wird. Dass alles gut werden wird! Und sollten wir Angst haben, wird diese Angst in unser Fallen mit hineingenommen und verwandelt werden! So wie das Blatt und die vielen anderen Blätter sanft aufgefangen werden von der Erde um sich wandeln zu lassen.
Denn ich bin gewiss:
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.